Text von Emanuel Kapfinger in der Zeitschrift tanz auf dem vulkan aus 2012 [PDF-Ausgabe]
Die Umstrukturierungen von Studium, Arbeit und Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten verändern die Bedingungen für den Studierendenprotest grundlegend. Ausgehend von einer Analyse der Auswirkungen der Krise auf das Studium zeigt Emanuel Kapfinger Wege auf, die zu einem effektiven Widerstand gegen die derzeitige Hochschulpolitik mit einem neu politisierten und radikalisierten Bewusstsein führen können.
Das gegenwärtige Studium befindet sich in einer desolaten Lage: Jedes Semester muss man aufs Neue das Kunststück der zeitlichen Organisierung von Job und Uni-Kursen hinbekommen. Immer wieder kann man ein Seminar, das einem wichtig wäre, nicht besuchen, weil man arbeiten muss. Jede Woche müssen mehrere Aufsätze abgegeben werden, schafft man das mehr als einmal nicht, ist man in dem Kurs durchgefallen. Typischerweise sitzt man dann vor dem Abgabetermin bis spät in die Nacht an dem Aufsatz, mit der Folge, dass man nicht ausgeschlafen ist und sich tags drauf nur schlecht konzentrieren kann. Oft kommt es so dick, dass man den Stoff nur mehr unverstanden in großen Mengen in sich hineinstopfen kann, damit es eben für eine prüfungstaugliche Wiedergabe hinreicht. Von einem Interesse am Studium keine Rede. Am Horizont droht die Suche nach dem Arbeitsplatz, die schlechte Aussichten bietet und einem die eigene Zurichtung zur Arbeitskraft aufzwingt, mit unbezahlten Praktika, Zusatzkursen, und markttauglichen Studienschwerpunkten.
Das politische Ziel der Studierendenproteste in den letzten Jahren war die Wiederherstellung einer Hochschule, in der freie Bildung, Wissenschaft und Persönlichkeitsentwicklung möglich ist. „Bildung ist keine Ware“ war der Slogan der Bewegung. Ich möchte hier für eine grundlegend andere strategische Ausrichtung des Studierendenprotests argumentieren: Studierende müssen als Proletarierinnen begriffen werden und die Bewegung nicht auf freie Bildung, sondern die Emanzipation der Ausbildung für Arbeit ausgerichtet werden. Also nicht gegen Arbeit, sondern für eine andere Arbeit. sowie die Aufnahme weiterer sozialer Themen, vor allem Wohnen und Jobben. Ich werde im folgenden zeigen, dass der bildungsbürgerlichen Proteststrategie analytische Fehler zugrundeliegen: Die Hochschulreformen sind nicht die Folge von neoliberaler Ideologie und Politik, sondern der globalen Krise des Systems seit den 70ern, und die zunehmende Ausrichtung der Hochschule auf den Arbeitsmarkt entspricht der stark zunehmenden Bedeutung von geistiger Arbeit in unserer Gesellschaft. Für die Ausrichtungsänderung des Protestes, wie ich sie vorschlage, ist zudem, im Gegensatz zum aktuellen Protest, auch die soziale Basis vorhanden.
Der Zustand der Universität
Die gegenwärtigen Probleme der Studierenden sind in der Krise des Kapitals begründet, die sich seit den 70er Jahren immer mehr zuspitzt und sich seit Ende der 90er weltweit in Zusammenbrüchen einzelner Wirtschaften sowie gegenwärtig in kurz aufeinander folgenden globalen Crashs manifestiert.
Für die Hochschule bedeutet das, knapp zusammengefasst, zweierlei. Zum einen gehen mit der Krise ein geringeres Steueraufkommen und gleichzeitig höhere Staatsausgaben einher. Dies lässt die Staatsverschuldung steigen und zwingt den Staaten eine gegenwärtig immer radikalere Sparpolitik auf. Dies betrifft auch die Hochschulen und äußert sich dort u. a. in Mittelknappheit bezüglich Räumen und Lehrenden, der Einführung von Studiengebühren und einer gewaltsamen Verkürzung des Studiums, d. h. im Bachelor.
Zum andern stehen im Zuge der Krise die Renditen der Unternehmen seit Jahren unter starkem Druck. Um die Unternehmen in dieser Lage zu unterstützen, müssen die Staaten daher möglichst günstige Wirtschaftsbedingungen schaffen, was sich z. B. in den letzten Jahren im Zwang zur Arbeit durch Hartz IV oder der weitgehenden Lockerung des Leiharbeitsrechts ausdrückte. Weil die Wirtschaft in den Industriestaaten heute zu einem großen und zunehmenden Teil in geistiger Arbeit (IT-Industrie, Forschung, kreative Industrie usw.) besteht, stehen die Hochschulen dabei im Zentrum der Bemühungen um Wettbewerbsfähigkeit.
Hierbei geht es darum, das Produkt der unternehmerischen Hochschule, sprich die Studierenden, geeigneter für ihre spätere Arbeit zu machen, sowohl durch die Aneignung einer bestimmten Subjektform als auch durch bestimmte Methoden und Kenntnisse. Ersteres etwa in den Fähigkeiten, sinnleere und schematische Arbeit auszuhalten oder sich selbst zu disziplinieren, um ohne Zeitverlust durch eigene Interessen das Geforderte „just-in-time“ bis zur Deadline zu liefern. Außerdem wird durch die neuen Formen der Studiengänge, mit ihren vervielfachten Anwesenheits- und Leistungspflichten und den strengen Vorgaben bezüglich der Studieninhalte die subjektive „Anpassungsfähigkeit“ an alles, was von außen gefordert wird, weiter befördert. Zudem werden die Studierenden durch bestimmte Methoden und Kenntnisse, die im Studium gelehrt werden und die sich durch einen besonderen „Praxisbezug“ auszeichnen, das heißt, durch eine erwartete ökonomische Nützlichkeit, auf den Arbeitsmarkt vorbereitet.
Die angestrebte belastbare Subjektform wird durch die neuen Formen der Studiengänge umgesetzt, durch vervielfachte Anwesenheits- und Leistungspflichten und durch sehr strenge Vorgaben bezüglich der Wahl der Studieninhalte. Der Praxisbezug der Lehrinhalte wird nur einzeln, nicht systematisch „von oben“ durchgesetzt, und wird eher durch das Eigeninteresse der Studierenden an ihrer Vermarktbarkeit gesichert, so dass etwa Fremdsprachenkenntnisse, soft-skill-Zusatzkurse oder die Wahl eines bestimmten Studienschwerpunktes von ihnen selbst verfolgt werden.
Wie das alles im Einzelnen aussieht, und wodurch es konkret verursacht wurde, ist sehr komplex und kann hier nicht im Einzelnen dargestellt werden. Allgemein kann man aber sagen, dass sich die Hochschule vom Massenbildungsbetrieb der 60er bis 80er, der nicht durch seine innere Struktur schon für den Kapitalismus ausbilden musste, zu einer regelrechten Fließbandproduktion von Akademikern wandelte, die zunehmend in allen Facetten auf die Verwertungslogik zugeschnitten ist. Die Hochschule musste zwar immer schon für den Arbeitsmarkt ausbilden, aber in Zeiten relativen wirtschaftlichen Wohlstands war es dem Staat möglich, ihr eine gewisse innere Freiheit einzuräumen. In Zeiten vermehrten wirtschaftlichen Drucks muss sie nun jedoch, gerade aufgrund ihrer Bedeutung für die heutigen Arbeitsprozesse, auch von innen auf die Erfordernisse dieser Arbeitsprozesse zurechtgetrimmt werden.
In den Studierendenprotesten der letzten Jahre stand die Kritik an der „Ökonomisierung der Bildung“ im Vordergrund. Sie sind damit durch ein „Zurück zu“ den Freiheiten der Hochschule der 70er Jahre charakterisiert. Dies ist jedoch der gegenwärtigen objektiven Tendenz der Lage der Studierenden kaum mehr angemessen.
Die Studierenden sind, wie die arbeitenden Akademikerinnen, objektiv proletarisiert. Geistige Arbeit ist bereits seit mehreren Jahrzehnten, aber mit steigender Tendenz, ein notwendiges und relativ großes Element im Produktionsprozess. Die Hochschule ist damit de facto, den objektiven Anforderungen und dem eigenen Anspruch nach, ein Ausbildungsbetrieb für die Massen der arbeitenden Intelligenz geworden – und kein Freiraum mehr für ein zu verwirklichendes Bildungsideal.
Da die Lage der Universität in der Gesellschaft sich auf diese Weise verändert hat, muss sich auch der Studierendenprotest auf diese veränderten Umstände einstellen. Die Studienbedingungen sind keineswegs zufällig so desaströs, sondern weil sie systematisch darauf ausgerichtet sind, auf die Arbeit in der Wissensgesellschaft vorzubereiten. Nicht aufgrund eines Eindringens der Managementideologie in die Universität, sondern weil es den objektiven Zwängen zur Verwertung entspricht, wird die ehemals einer Elite zukommende freie Bildung durch eine massenhafte Fließbandproduktion von Akademikerinnen ersetzt. Die Hochschulreformen sind also nicht bloß eine Folge neoliberaler Ideologie, sondern folgen dem verstärkten Verwertungszwang des Kapitals in Zeiten vermehrter globaler Konkurrenz und Überakkumulation.
Der Studierendenprotest muss daher von diesen veränderten Bedingungen ausgehen: Er muss das Studium als Moment der gegenwärtigen gesellschaftlichen Organisation der Arbeit begreifen und zu einem Widerstand gegen deren kapitalistische Form werden. Er muss die heutige Hochschule zusammen mit der gegenwärtigen Organisation der Arbeit bekämpfen.
Strategische Neuorientierung
Diese notwendige Veränderung des Studierendenprotestes hat auch eine strategische Bedeutung. Zum einen kann ein solcher Protest dabei an wirklich vorhandene und radikalere Interessen der Studierenden anknüpfen. Ihre Lebensbedingungen werden schwieriger, ihre Konkurrenz und die damit verbundene Arbeitslosigkeit ist hoch.
Obwohl der Leidensdruck für die Studierenden enorm ist, befinden sie sich – wie der Rest der Gesellschaft – in einer desolaten Lage, was ihre Politisierung und Organisierung angeht, und damit auch in Bezug auf Möglichkeiten des Widerstands. Das Gefühl politischer Ohnmacht, Zukunftsangst, soziale Fragmentierung und ein ständiger Leistungsdruck sind weit verbreitet und verhindern Widerstand wie Erkenntnis über die eigene Lage überhaupt.
In dieser Situation könnte die Thematisierung sozialer Probleme, denen die Studierenden materiell und unmittelbar ausgesetzt sind – der psychisch und physisch zerstörerische Leistungsdruck, die düstere Perspektive auf die künftige Arbeit, die Studienfinanzierung, die Arbeit neben dem Studium, das Versinken in Studienkrediten, der knappe und teure Wohnraum –, im Umkreis der Studierendenproteste und das Aufzeigen radikalerer Wege zu ihrer Behebung zu einer neuen Bewusstseinsbildung führen. Denn im Selbstverständnis der Studierenden im Studium geht es nicht mehr um freie Bildung für die Teilnahme an einer gebildeten bürgerlichen Gesellschaft. Das Studium verstehen sie in erster Linie als Eintrittsticket in die Arbeitswelt und wird von ihnen auch so organisiert.
Seit mehreren Monaten wird bereits vielerorts die Wohnungssituation von Studierenden – im Zusammenhang mit Initiativen für das „Recht auf Stadt“ außerhalb der Hochschule – als Hauptproblem mit in den Fokus gerückt. Die gegenwärtige und künftige Arbeit von Studierenden hingegen wird politisch kaum erwähnt. Vor allem von Gewerkschaftsseite gibt es hier zwar Initiativen, aber diese sind recht geringfügig und zahm.
Zum andern kann mit einer veränderten Ausrichtung des Studierendenprotestes, gegen das Interesse der Verteidigung von ständischen Interessen und Privilegien im Bildungsprotest, auf eine proletarische Bewusstseinsbildung unter Studierenden hingearbeitet werden und damit auf eine Solidarisierung mit Menschen in nicht-intellektuellen Arbeitsverhältnissen. Denn trotz der objektiven Proletarisierung der Akademikerinnen bleiben gewisse Privilegien geistiger Arbeit – gehobenes Einkommen, leichtere und sinnhaftere Arbeit, subjektiver Wertgewinn durch die Verkörperung von Bildung und Kultur – dennoch weiterhin bestehen, ebenso wie die Herrschaft der geistigen Arbeit über die körperliche. Studierende haben ein distinguiertes Bewusstsein, das am Erreichen privilegierter sozialer Positionen interessiert ist und eben darum Herrschaft verinnerlicht hat. Sie sind, obwohl objektiv Proletarierinnen, am Erhalt des Privateigentums und der Klassenteilung interessiert und haben die Erwartungen der Autoritäten gegen sie als ihren eigenen Willen verinnerlicht. Dem entspricht das widersprüchliche Bewusstsein des Kleinbürgers aus der klassischen marxistischen Theoriebildung. Dieses Interesse am Privileg muss von den Studierenden überwunden werden – ansonsten werden sie die Ausbeutung und die Gewalt des Kapitals gegen die Menschen, auch gegen ihre eigenen Interessen weiterhin verteidigen. Die Thematisierung sozialer Probleme in der Studierendenpolitik könnte hier zu einer Einsicht in die eigene Klassenlage und zu einer Gemeinschaft mit Emanzipationsbewegungen in anderen gesellschaftlichen Bereichen führen. Kommt es zu einer Solidarisierung von Kämpfen, dann könnten Studierende mit ihren spezifischen Fähigkeiten – zum Beispiel gesellschaftstheoretisches oder juristisches Wissen – andere Menschen unterstützten, wie umgekehrt diese mit ihren Fähigkeiten Studierende.
Radikalisierung des Studierendenprotestes
Die Hochschulreformen sind nicht bloß eine Folge der neoliberalen Ideologie, sondern haben grundsätzlichere Notwendigkeit. Die Probleme der Hochschule werden sich daher auch nicht durch gute Argumente und durch Forderungen nach Verbesserung lösen lassen, etwa durch Proteste, Demonstrationen, durch den Gang in Parlamente und Gremien.
Eine reale Möglichkeit, auf dem Weg von Reformen etwas zu ändern, hat der Studierendenprotest nur, wenn er sich zu einem wirklichen Widerstand an der Hochschule radikalisiert, und sich in eine gesellschaftliche Bewegung gegen die aktuelle Schulden- und Krisenpolitik integriert. Ersteres würde bedeuten, dass durch den Widerstand an der Hochschule ein Schaden entsteht, der finanziell höher liegt, als die Reformen einbringen und weiter einbringen können, ähnlich wie es im Arbeitskampf ein Streik tut. Der Studierendenprotest muss sich aus objektiven Gründen, um seine eigenen Ziele zu erreichen, zu einem materiellen Widerstand radikalisieren, und zu einem tatsächlichen Bildungsstreik werden. Ein solcher könnte z. B. in einer kollektiven Verweigerung von Prüfungsleistungen bestehen, was die Studienzeiten für einen Jahrgang und damit auch die Kosten für die Hochschule und den Staat vergrößern würde.
Zum andern kann der Studierendenprotest nicht isoliert gegen die eigentlichen Ursachen der gegenwärtigen Hochschulpolitik kämpfen, da diese systemisch sind und daher auch nur von einer gesamtgesellschaftlichen Bewegung modifiziert werden können. Der Studierendenprotest muss sich daher am allgemeinen Widerstand gegen die aktuelle Krisen- und Sparpolitik beteiligen.
Weder ein materieller Widerstand gegen die derzeitige Hochschulpolitik noch eine Bewegung gegen die Krisenpolitik wird aber die Krise des Kapitals beheben, weil sie nicht die eigentlichen Ursachen der Krisen bekämpfen können. Entsprechend wird auch eine wesentliche Besserung des Studiums so nicht zu erreichen sein. Hierfür muss der letzte Grund der Krise selbst überwunden werden, die kapitalistische Produktionsweise. Wir müssen gegen die Herrschaft des Kapitals die Selbstorganisation der Menschen setzen.
Zur Strategie des Studierendenprotestes in der gegenwärtigen Krise des Kapitals
- By Redakteur:in
- on 5. April 2015
- in Aktuelles, Protest